Rechtsstand: 01.01.2021

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Artikel 62

( 1 ) Zur Erprobung neuer Ordnungen, Arbeits- und Organisationsformen kann die Landessynode mit verfassungsändernder Mehrheit Erprobungsgesetze beschließen, die von einzelnen Vorschriften der Grundordnung abweichen. Das Erprobungsgesetz kann vorsehen, dass zur Ausführung eine Rechtsverordnung des Landeskirchenrates erlassen wird. Das jeweilige Erprobungsgesetz sowie ausführende Regelungen treten spätestens nach Ablauf von sechs Jahren außer Kraft. Eine Verlängerung ist einmalig, längstens um weitere drei Jahre möglich.
( 2 ) Auf Vorschlag der zuständigen Leitungsorgane der Pfarrgemeinden, Kirchengemeinden und Kirchenbezirke kann der Landeskirchenrat durch Rechtsverordnung Erprobungsregelungen für diese treffen, die von Vorschriften der Grundordnung oder anderer Gesetze abweichen. Die Rechtsverordnung bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlich vorgeschriebenen stimmberechtigten Mitglieder des Landeskirchenrates. Die Geltungsdauer der Rechtsverordnung ist auf längstens drei Jahre zu begrenzen. Sie kann, auch für Teile der Regelung, einmalig längstens um weitere drei Jahre verlängert werden. Die Landessynode kann die Rechtsverordnung oder Teile derselben außer Kraft setzen.
( 3 ) Der Evangelische Oberkirchenrat unterrichtet die Landessynode und den Landeskirchenrat über die Erfahrungen bei der Erprobung der zugelassenen Arbeits- und Organisationsformen.
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A. Erprobung als Ausnahmeregelung

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Artikel 62 ist eine Ausnahmeregelung von Art. 59 Abs. 3 GO, der eine »Verfassungsdurchbrechung« grundsätzlich verbietet.1# Er bietet die Möglichkeit, neue Ordnungen, Arbeits- und Organisationsformen zunächst für einen bestimmten Zeitraum in der Praxis auszuprobieren, bevor die Entscheidung über eine eventuelle Grundordnungsänderung als Dauerlösung getroffen wird. Insofern dient die Bestimmung dem Schutz der Grundordnung vor zu häufigen und übereilten Änderungen.
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Systematisch sind die bisherigen Bestimmungen über Erprobungsgesetze und die Erprobungsverordnungen an dieser Stelle im Titel über die Gesetzgebung der Landeskirche zusammengefasst worden.
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B. Erprobungsgesetze

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Absatz 1 entspricht in der Sache dem früheren § 132 Abs. 4 GO. Er ermöglicht durch ein Gesetz der Landessynode, neue Arbeits- und Organisationsformen auf allen Ebenen der Landeskirche zur Erprobung freizugeben, einschließlich der Landeskirche selbst.2# Diese Möglichkeit wurde erst durch das Zwölfte Kirchliche Gesetz zur Änderung der Grundordnung vom 21. April 19963# eingeführt. Bis dahin waren nur Erprobungsverordnungen des Landeskirchenrates für die Gemeinden und Kirchenbezirke vorgesehen. Die Notwendigkeit von Erprobungsgesetzen ergab sich damals als Konsequenz aus dem gleichzeitigen Verbot der Verfassungsdurchbrechung.
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Das Erprobungsgesetz bedarf der verfassungsändernden Mehrheit nach Art. 59 Abs. 2 GO.4# Seine Laufzeit ist maximal auf neun Jahre begrenzt. Nach Ablauf dieser Zeit muss die Erprobung entweder beendet5# oder in eine endgültige Regelung6# überführt werden.
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Durch das Kirchliche Gesetz zur Änderung der Grundordnung des Leitungs- und Wahlgesetzes sowie weiterer Gesetze vom 19. Oktober 20167# wurde in Absatz 1 der Satz eingefügt, dass der Landeskirchenrat zur Ausführung von Erprobungsgesetzen Rechtsverordnungen erlassen kann. Für diese ist eine qualifizierte Mehrheit – anders als bei den originären Erprobungsverordnungen des Landeskirchenrates nach Absatz 2 – nicht vorgeschrieben.8#
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Eine inhaltliche Begrenzung für Erprobungsgesetze besteht durch die weite Formulierung »neue Ordnungen, Arbeits- und Organisationsformen« praktisch nicht. Eine Grenze ergibt sich aber unter dem Gesichtspunkt der gesetzgeberischen Zuständigkeit der Landessynode, insbesondere muss sie auf das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden Rücksicht nehmen, das diesen durch Art. 5 Abs. 2 GO9# garantiert ist. Keine Regelungskompetenz der Landessynode für Erprobungsgesetze besteht im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts, soweit die Zuständigkeit dafür nach Artikel 61 GO der Arbeitsrechtlichen Kommission übertragen worden ist.
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C. Erprobungsverordnungen

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Die Möglichkeit nach Absatz 2, neue Ordnungen, Arbeits- und Organisationsformen durch eine Rechtsverordnung des Landeskirchenrates zur Erprobung einzuführen, war bisher in § 141 GO geregelt.10# Im Unterschied zum Erprobungsgesetz nach Absatz 1 kann sich eine Erprobungsverordnung des Landeskirchenrates nur auf die Pfarrgemeinden, die Kirchengemeinden und die Kirchenbezirke beziehen und setzt einen entsprechenden Vorschlag des zuständigen Leitungsorgans voraus. Die Erprobungsverordnung kann auch Abweichungen von anderen Gesetzen als der Grundordnung zur Erprobung freigeben. Für den Erlass der Verordnung ist eine qualifizierte Mehrheit erforderlich.11# Die Tatsache, dass im Unterschied zur verfassungsändernden Mehrheit für Erprobungsgesetze der Landessynode nach Absatz 112# das Erfordernis von zwei Dritteln der gesetzlich vorgeschriebenen Mitglieder der Landeskirchenrates beibehalten worden ist, soll verhindern, dass sich das Verhältnis zwischen den synodalen Mitgliedern und den Mitgliedern des Evangelischen Oberkirchenrates nach Art. 82 Abs. 1 Satz 2 GO durch eine unterschiedlich starke Anwesenheit oder aktuell nicht besetzte Plätze verschiebt. Wegen der Stellvertretungsregelung in Art. 82 Abs. 2 GO ist das jedoch ein eher theoretisches Problem.
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Die mögliche Laufzeit der Erprobungsverordnungen des Landeskirchenrates ist auf höchstens sechs Jahre begrenzt und damit grundsätzlich kürzer als die der Erprobungsgesetze. Eine Ausnahme besteht nur, wenn es sich um eine Rechtsordnung zur Ausführung eines Erprobungsgesetzes nach Abs. 1 Satz 3 handelt, um deren Laufzeiten zu koordinieren.13#
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Die Erprobungsverordnung oder Teile davon können auch vor dem Ende der ursprünglichen Laufzeit außer Kraft gesetzt werden. Diese Entscheidung liegt jedoch bei der Landessynode und nicht mehr beim Landeskirchenrat, der die Verordnung ursprünglich erlassen hat. Einer Ermächtigung zur vorzeitigen Änderung oder Aufhebung eines Erprobungsgesetzes bedarf es in der Grundordnung nicht, da sich dies aus dem Gesetzgebungsrecht der Synode ohnehin ergibt.
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D. Informationspflicht

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Die Informationspflicht des Evangelischen Oberkirchenrates nach Absatz 3 dient der laufenden Kontrolle über die Ergebnisse des Erprobungsprozesses. Sie soll ermöglichen, auf die gemachten Erfahrungen zeitnah zu reagieren.

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1 ↑ Siehe dazu: Art. 59 Rdnr. 6.
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2 ↑ Als Beispiel dafür siehe: Kirchliches Gesetz zur Erprobung neuer Zuständigkeiten für die Rechnungsprüfung in der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 18. April 2008, GVBl. S. 120 (RS Baden Nr. 160.110).
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3 ↑ GVBl. S. 77 (damals § 132 Abs. 3).
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4 ↑ Siehe: Art. 59 Rdnr. 5.
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5 ↑ Ein Beispiel für eine gescheiterte Erprobung, die zu keiner Dauerlösung geführt hat, ist das Modell einer »geschwisterlichen« Leitung durch mehrere Personen als Alternative zur einzelnen Dekanin bzw. zum einzelnen Dekan durch den Kirchenbezirk Wiesloch; vergl.: Verhandlungen der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden, Ordentliche Tagung vom 19. bis 22. April 1996, S. 64.
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6 ↑ Beispiele für erfolgreiche Erprobungen sind die Erprobungsgesetze zur Strukturreform in den Großstädten Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Pforzheim und Freiburg. Siehe dazu die Gesetze in: GVBl. 2009, S. 153.
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7 ↑ GVBl. S. 226.
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8 ↑ Durch dieses Gesetz wurden im Übrigen die früheren Absätze 2 und 3 in einem Absatz zusammengeführt. Entfallen ist dabei, dass die Zustimmung der Landessynode zur Verlängerung eine Erprobungsverordnung des Landeskirchenrates der verfassungsändernden Mehrheit bedarf (früher Art. 62 Abs. 2 Satz 4).
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9 ↑ Siehe: Art. 5 Rdnr. 2.
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10 ↑ Die Möglichkeit zur Erprobung neuer Arbeits- und Organisationsformen für die Kirchengemeinden und Kirchenbezirke durch Erlass des Landeskirchenrates wurde durch das Vierte Kirchliche Gesetz zur Änderung der Grundordnung vom 29. April 1971, GVBl. S. 89 geschaffen (damals § 133).
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11 ↑ Diese ergibt sich aus Art. 82 Abs. 1 GO.
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12 ↑ Siehe: Art. 59 Rdnr. 5.
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13 ↑ Siehe schon früher Art. 62 Abs. 3 Satz 5 GO a.F.