Rechtsstand: 01.01.2021

.#
###

Artikel 9

( 1 ) Die Mitglieder der Evangelischen Landeskirche in Baden sind durch die Taufe Glieder der Kirche Jesu Christi. Sie haben Anspruch darauf, dass ihnen in regelmäßigen öffentlichen Gottesdiensten und aus besonderen Anlässen Gottes Wort verkündigt und das Abendmahl gereicht wird. Die Angebote der kirchlichen Unterweisung, der Bildung und der Erziehung stehen ihnen offen.
( 2 ) Die durch die Taufe begründete Gliedschaft in der Kirche Jesu Christi berechtigt alle Mitglieder der Evangelischen Landeskirche in Baden, nach Maßgabe der kirchlichen Ordnungen gleichberechtigt kirchliche Ämter und Aufgaben zu übernehmen und verantwortlich an der Sendung der Kirche mitzuwirken.
( 3 ) Die Mitgliedschaft in der Evangelischen Landeskirche in Baden vermittelt jedem Kirchenmitglied die Zugehörigkeit zu der in der Evangelischen Kirche in Deutschland bestehenden Gemeinschaft der evangelischen Christenheit. Die sich daraus für das Kirchenmitglied ergebenden Rechte und Pflichten gelten im gesamten Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland.
( 4 ) Die Mitglieder der Evangelischen Landeskirche in Baden tragen durch Abgaben und Opfer zur Erfüllung des kirchlichen Auftrages bei.
####
Literatur
Claessen, Herbert (2007): Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kommentar und Geschichte. Stuttgart.
Drößler, Bernd Th. / Kämper, Burkard / Schilberg, Arno (2020): Infektionsschutz und Religionsausübung: Religionsfreiheit unter dem Eindruck von Corona. KuR 26, S. 2 ff.
Friedrich, Otto (1933): Der evangelische Kirchenvertrag mit dem Freistaat Baden mit einer Einführung und Erläuterungen. Lahr.
Germann, Michael (2004): Was heißt es juristisch »zur Kirche zu gehören«? In: Texte aus der VELKD 131/2004, S. 23 ff.
Härle, Wilfried (1989): Kirche VII. Dogmatisch. In: TRE Bd. XVIII. Berlin, New York, S. 277 ff.
Hermelink, Jan (2000): Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Gestaltung kirchlicher Beteiligung. Göttingen.
Listl, Joseph (1987): Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe für Wissenschaft und Praxis. Berlin.
Unruh, Peter (2021): Die Kirchen, der Sonntagsschutz und das Veraltungsverfahren. ZevKR 66, S. 89 ff.
Winter, Jörg (2008): Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung mit kirchenrechtlichen Exkursen. 2. Aufl. Köln.
Wißmann, Hinnerk (2021): Religionsfreiheit und Pandemievorbehalt. ZevKR 66, S. 77 ff.
Siehe auch die Hinweise bei Artikel 8.
#
1
Der Artikel 9 dient im Sinne der Kommentierung zu Artikel 2 der Umsetzung der dort beschriebenen grundlegenden Strukturelemente einer Kirchenverfassung im Blick auf die Rechtsstellung der Gemeindeglieder. Absatz 1 entspricht dem bisherigen Wortlaut der §§ 6 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GO.
#

A. Teilhabe am Leib Christi

###
2
Nach evangelischem Verständnis bedeutet der geistliche Aspekt der Kirchenmitgliedschaft die Zugehörigkeit zur »Gemeinschaft der Heiligen«, in die das Werk des Heiligen Geistes durch das gepredigte Evangelium führt. Die Taufe bedeutet in diesem Zusammenhang die zeichenhafte Eingliederung in den Leib Christi und das Volk Gottes; es handelt sich um eine Zeichenhandlung, die der Heilsverheißung des Evangeliums entspricht und die daher durch sie sinnhaft vermittelt wird.1# Weil es der rechtlich verfassten Partikularkirche verheißen ist, die irdische Gestalt des Leibes Christi zu sein, muss Entsprechendes auch für das Verhältnis der geistlichen zur rechtlichen Dimension der Kirchenmitgliedschaft gelten. Aufgrund der Mitgliedschaft in der Partikularkirche ist es dem Einzelnen verheißen, am Leib Christi teilzuhaben.2#
#

B. Öffentliche Gottesdienste

###
3
Absatz 1 Satz 2 ist eine Konkretion des Rechtes auf »Zugang zum Glauben«3# und begründet subjektive Rechtsansprüche der Kirchenmitglieder im Hinblick auf eine regelmäßige Grundversorgung mit gottesdienstlichen Angeboten einschließlich der Feier des heiligen Abendmahls. Eine Beschränkung der Kirche auf ein lediglich »exemplarisches Handeln« und ein Rückzug aus der Fläche ist in diesem Bereich damit ausgeschlossen. Ein Anspruch auf die Schaffung oder Aufrechterhaltung eines bestimmten gottesdienstlichen Angebots besteht allerdings nicht. In welcher Form der Anspruch aus Absatz 1 erfüllt wird, obliegt der Entscheidung des Ältestenkreises nach Art. 16 Abs. 3 Nr. 7 GO.
#

C. Staatskirchenrechtliche Garantien

###
4
Auch durch das staatliche Recht sind öffentliche Gottesdienste geschützt. Das Recht der Gemeinde, sich zum Gottesdienst zu versammeln, ist sowohl durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit als auch als unmittelbarer Ausdruck der Religionsausübungsfreiheit durch Art 4 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich garantiert. Die Durchführung und Gestaltung von öffentlichen Gottesdiensten gehört im Übrigen zu den »eigenen Angelegenheiten« im Sinne von Art. 140 GG i.V.m. Art 137 Abs. 3 WRV, die die Religionsgemeinschaften »in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes«4# selbständig regeln dürfen. Träger dieser Rechte sind neben den Mitgliedern der Kirche als natürliche Personen auch die Kirchen als juristische Organisation. Das Land Baden-Württemberg hat sich darüber hinaus vertraglich verpflichtet, der Freiheit, den evangelischen Glauben zu bekennen und auszuüben, den gesetzlichen Schutz zu gewähren und das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in ihren eigenen Angelegenheiten zu garantieren.5#
»Die Evang. Kirche ist die Kirche des Wortes und zwar des gesprochenen Wortes, und das Bekennen zum Glauben dieser Kirche heißt, sich immer wieder um das Wort, das die Kirche in der Predigt bietet, zu versammeln. Das Lebenszentrum der Evang. Kirche ist der Gottesdienst, insbesondere der Gemeindegottesdienst. Der Ausübung evangelischer Religion den gesetzlichen Schutz gewähren heißt deshalb, sowohl die Landeskirche in der öffentlichen Abhaltung dieser Gottesdienste wie den einzelnen Evangelischen in der öffentlichen Teilnahme an diesen Gottesdiensten zu schützen.«6#
5
Ein Verbot zum Besuch von Gottesdiensten durch den Staat, wie es im Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS Cov 2 durch die Landesregierung in Baden-Württemberg im Frühjahr 2020 unter Berufung auf § 28 Abs.1 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes verfügt worden ist,7# kann deshalb nur in ganz besonderen Ausnahmefällen und unter engen rechtlichen Voraussetzungen als ultima ratio in Betracht kommen. Die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen nach Art. 8 GG8# und die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG unterliegen keinem Gesetzesvorbehalt, sondern nur den sog. verfassungimmanenten Schranken9#. Sie können daher nur zum Schutz der Grundrechte anderer oder von Rechtsgütern mit Verfassungsrang eingeschränkt werden. Im Zusammenhang mit Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Infektionserkrankungen kann sich eine solche verfassungimmanente Schranke aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergeben, der das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert. Die kollidierenden Rechtsgüter sind dabei aber im Sinne einer praktischen Konkordanz zu einem Ausgleich zu bringen, damit sie zu optimaler Geltung kommen.10# Das ist ein Anwendungsfall der Klausel im Vertrag des Landes Baden-Württemberg mit den evangelischen Kirchen in Baden und Württemberg, in der sich die Vertragspartner dazu verpflichten, »sich vor der Regelung von Angelegenheiten, die ihr Verhältnis zueinander berühren, miteinander ins Benehmen setzen«11#. Diese Verpflichtung steht einem einseitig verfügten staatlichen Verbot von gottesdienstlichen Versammlungen ohne den Versuch einer vorherigen Verständigung mit den evangelischen Kirchenleitungen über andere, weniger einschneidende Maßnahmen zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung entgegen. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hat neuerdings bestätigt, dass die Kirchen einen Anspruch darauf haben, an Verwaltungsverfahren beteiligt zu werden, die zu einer Einschränkung des Sonn- und Feiertagsschutzes nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV durch die Bewilligung von Ausnahmegenehmigungen vom Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit führen.12# Das muss umgekehrt und erst Recht gelten, wenn es um Einschränkungen geht, die die Kirchen in der Wahrnehmung ihrer Rechte aus Art. 4 GG und aus Art. 140 GG i.V.m. Art 137 Abs. 3 WRV unmittelbar selbst betreffen.
#

D. Angebote der kirchlichen Unterweisung, Bildung und Erziehung

###
6
Etwas anderes als bei öffentlichen Gottesdiensten gilt für die kirchlichen Angebote im Bereich der Unterweisung, der Bildung und der Erziehung, die in Abs. 1 Satz 3 ausdrücklich genannt sind. Diese stehen den Kirchengliedern nur offen, soweit die Angebote tatsächlich vorhanden sind, d.h., es besteht kein subjektiver Rechtsanspruch darauf, dass sie in einem bestimmten Umfang bereitgestellt werden. Weitere Regelungen dazu enthält Artikel 10.
#

E. Partizipatorische Rechte

###
7
Absatz 2 entspricht der Sache nach dem bisherigen § 6 Abs. 2 GO. Neu ist die Anknüpfung an Absatz 1 durch die Bezugnahme auf die Taufe. Die genannten Rechte sind Ausdruck der »partizipatorischen Struktur« der Kirche im Sinne der Darlegungen zu Artikel 2.13#
#

F. Zugehörigkeit zur EKD

###
8
Absatz 3 verweist auf die Rechte und Pflichten, die sich aus dem Mitgliedschaftsrecht der EKD ergeben. Damit ist vor allem § 3 des Kirchengesetzes über die Kirchenmitgliedschaft14# in Bezug genommen, der lautet:
»(1) In der Gemeinschaft der deutschen evangelischen Christenheit bieten alle Gliedkirchen allen Kirchenmitgliedern den Dienst der Verkündigung, der Seelsorge und der Diakonie an und lassen sie nach Maßgabe ihrer Ordnungen zum Heiligen Abendmahl zu.
(2) Im Rahmen der kirchlichen Ordnung nehmen die Kirchenmitglieder an der Gestaltung des kirchlichen Lebens teil und wirken bei der Besetzung kirchlicher Ämter und bei der Bildung kirchlicher Organe mit.«
Die Bestimmung vermittelt keine persönliche Mitgliedschaft des einzelnen Kirchenmitglieds zur EKD, die rechtlich ein Bund ihrer Gliedkirchen ist.15# Insoweit ist zwischen der »Mitgliedschaft« und der »Zugehörigkeit« zu unterscheiden.16#
#

G. Finanzielle Verpflichtungen

###
9
Absatz 4 begründet eine allgemein gehaltene kirchenrechtliche Verpflichtung der Kirchenglieder, die Kirche finanziell zu unterstützen. Dass dabei die Haupteinnahmequelle der Kirchensteuer nicht namentlich erwähnt wird, ist aus der Tatsache zu erklären, dass dafür in Artikel 140 GG i.V.m. Artikel 137 WRV eine eigene staatskirchenrechtliche Regelung besteht.17# Die Kirchensteuer kann im Sinne von Absatz 4 zu den »Abgaben« gerechnet werden, auf deren Zahlung ein einklagbarer Rechtsanspruch besteht.18# Mit dem Wort »Opfer« sind vor allem die auf freiwilliger Basis beruhenden Spenden und gottesdienstlichen Kollekten erfasst. Dazu gehörte früher auch das Ortskirchgeld, das für die Aufgaben der Ortsgemeinde als regelmäßiger Jahresbeitrag von volljährigen Gemeindegliedern erhoben worden ist, die über ein eigenes Einkommen verfügten, jedoch keine Kirchensteuer entrichteten. Das 2004 beschlossen Kirchgeldgesetz19# wurde aber von der Landessynode im Oktober 2015 aufgehoben.20#

#
1 ↑ Vergl.: W. Härle (1989): S. 548 f.
#
2 ↑ M. Germann (2004): S. 31.
#
3 ↑ Siehe dazu die Kommentierung bei Art. 2 Rdnr. 3.
#
4 ↑ Zur Bedeutung und Interpretation dieser Einschränkung siehe: J. Winter (2008): S. 180 ff.
#
5 ↑ § 1 Vertrag des Landes Baden-Württemberg mit der Evangelischen Landeskirche in Baden und mit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (Evangelischer Kirchenvertrag Baden-Württemberg – EvKiVBW) vom 17. Oktober 2007, GVBl, S. 174 (RS Baden Nr. 700.300); so auch schon Art. 1 des evangelischen Kirchenvertrages mit dem Freistaat Baden vom 10. März 1933.; für die römisch-katholische Kirche siehe die entsprechenden Bestimmungen in Art. 1 des Konkordats zwischen dem deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl vom 12. September 1933 (Reichskonkordat) und des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Baden vom 12. Oktober 1932, beide bei Joseph Listl (1987): S. 35 u. S. 138; zur juristischen Qualifizierung solcher vertraglichen Regelungen siehe: J. Winter (2008): S. 25.
#
6 ↑ O. Friedrich (1933): S. 72.
#
7 ↑ § 3 Abs. 2 Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS- Cov-2 (Corona Verordnung) vom 17. März 2020.
#
8 ↑ Der Gesetzesvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG bezieht sich nur auf Versammlungen unter freiem Himmel.
#
9 ↑ Vergl. dazu: J. Winter (2008): S. 118.
#
10 ↑ Siehe dazu: B. Drößler / B. Kämper. / A. Schilberg (2020); zur differenzierten Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und des Bundesverfassungsgerichts siehe: H. Wißmann (2021).
#
11 ↑ Art. 29 Satz 2 Vertrag des Landes Baden-Württemberg mit der Evangelischen Landeskirche in Baden und mit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (Evangelischer Kirchenvertrag Baden-Württemberg – EvKiVBW) vom 17. Oktober 2007, GVBl. S. 147 (RS Baden Nr. 700.300); siehe auch schon die entsprechende Klausel in Art. IX im evangelischen Kirchenvertrag mit dem Freistaat Baden vom 10. März 1933 bei O. Friedrich (1933): S. 13.
#
12 ↑ Siehe dazu: P. Unruh (2021).
#
13 ↑ Siehe: Art. 2 Rdnr. 3 ff.; vergl. dazu auch: J. Hermelink (2000): S. 151 ff.
#
14 ↑ Kirchengesetz über die Kirchenmitgliedschaft, das kirchliche Meldewesen und den Schutz der Daten der Kirchenmitglieder (Kirchengesetz über die Kirchenmitgliedschaft) vom 10. November 1976, Abl. EKD 1976 S. 389 (RS Baden Nr. 140.100).
#
15 ↑ Siehe dazu oben: Art. 4 Rdnr. 3 ff.
#
16 ↑ Vergl. dazu: H. Claessen (2007): S. 217 f.
#
17 ↑ Zum System der Kirchensteuer vergl.: J. Winter (2008): S. 237 ff.
#
18 ↑ Siehe: § 3 Gesetz über die Erhebung von Steuern durch öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften in Baden-Württemberg (RS Baden Nr. 150.100).
#
19 ↑ Kirchliches Gesetz über das Ortskirchgeld (Kirchgeldgesetz) vom 24. April 2004, GVBl. S. 106
#
20 ↑ Zur Begründung siehe die Vorlage des Landeskirchenrates, Verhandlungen der Landessynode, Ordentliche Tagung vom 18. Oktober bis 22. Oktober 2015, Anlage 5.